Recherche: Die Ledercouch und das Mittelalter

Kürzlich entspann sich in einer Facebook-Gruppe eine lebhafte Diskussion um eine Textprobe, die eine Autorin gepostet hatte. Es ging um die Frage, ob es im Mittelalter bereits Tabak gab. Allerdings wimmelte es in dem Text von Anachronismen - es gab dort u.a. ein Wohnzimmer mit einer Ledercouch und kostbaren Teppichen auf dem Fußboden.
Als sich Susanne Pavlovic in die Diskussion einschaltete,  wurden schnell alle Unklarheiten beseitigt, denn Susanne ist nicht nur Lektorin, sondern hat auch Geschichte, mit Schwerpunkt Mittelalter, studiert.
Als ich das las, bat ich sie umgehend um einen Gastbeitrag zum Thema "Recherche für historische Romane". Dankenswerterweise hat sie zugesagt. Hier ist das Ergebnis - viel Spaß beim Lesen!

Auf der Ledercouch ins Mittelalter - warum Recherche nur zu ersetzen ist durch noch mehr Recherche - Soweit sind wir uns vermutlich alle einig: Wer einen Historischen Roman schreiben will, muss sich wirklich gut auskennen. Und zwar nicht nur mit den politischen Hintergründen und großen Ereignissen der beschreibenen Zeit, sondern auch mit dem Alltäglichen. Wann wurde eigentlich die Zigarette erfunden? Waren Wagenräder im zwölften Jahrhundert schon geschraubt oder noch gedübelt? Ab wann gab es eigentlich Trippen (diese Dinger, halb Stelze, halb Plateauschuh, die man sich unter den eigentlichen Schuh schnallte, um dem Straßendreck zu entgehen)? Wiehern Pferde eigentlich tatsächlich ständig, wie im Film, und konnten Ritter im vollen Plattenpanzer mal eben gelenkig vom Pferd hüpfen?

Die Antworten, falls Sie etwas in dieser Richtung planen: Ende des Neunzehnten Jahrhunderts während des Krimkrieges, gedübelt, ab dem Hochmittelalter, nein, und nein, nicht mal annähernd.
Sauber recherchierte Historische Romane, die bis ins Detail authentisch sind, bieten dem Leser nicht nur Vergnügen, sondern auch Bildung. Ich bin vermutlich nicht die einzige, die während der Neunzigerjahre die Romane von Tanja Kinkel als Unterstützung im Geschichts-Studium genutzt hat. Außerdem wissen die Autor/innen Historischer Romane, dass es da draußen immer jemanden gibt, der sich noch besser auskennt, und in den Zeiten des erhöhten Mitteilungsbedürfnisses ist die nächste halbschlechte Amazon-Rezension nur ein paar Klicks entfernt. Wasserdichte Recherche dient also auch dem Selbstschutz.

Recherche im Auftrag des Erzmagiers - Doch wie ist das im Phantastischen Roman bzw. in der Fantasy? Ist hier nicht alles erlaubt, was die Vorstellungskraft so hervorbringt?
Erlaubt schon. Ob sinnvoll, ist die andere Frage.
Will eine Fantasywelt überzeugen, muss sie authentisch und in sich schlüssig sein. Sie hat eine Entwicklung hinter sich, die hauptsächlich von den vorhandenen Ressourcen abhängt, davon, ob es mehr als eine intelligente Spezies gibt, ob Magie eine manifeste Kraft ist und welchen skurrilen Humor die Götter haben. Sie hat auch eine Entwicklung vor sich, die beispielsweise von der Endlichkeit der Resourcen bestimmt werden kann, vom Verhältnis der intelligenten Spezies untereinander, von der Rolle der Religionen als Motor oder Hemmschuh und wiederum davon, welchen skurrilen Humor die Götter haben. Diese Entwicklung muss aber in sich logisch sein. Ist das Schießpulver erst mal erfunden, sterben die Ritter aus. Gibt es Flugsaurier, nützt eine Festung oben auf einer Bergzinne wenig. In einer Wasserwelt steht selten ein Steak auf dem Speiseplan.
Der Rechercheaufwand eines Fantasyautors bezieht sich also nicht auf eine bestimmte Epoche, sondern auf Zusammenhänge und auf etwas, das man als Tech-Level bezeichnet. Der Tech-Level umschreibt, auf welchem technischen Niveau eine erfundene Welt sich bewegt. Vor oder nach dem Schießpulver? Vor oder nach der Dampfmaschine? Vor oder nach dem Atomreaktor?
Um eine wirklich authentische Welt zu kreieren, müssen Fantasy-Autoren sich also sehr genau über den Tech-Level ihrer Welt im Klaren sein. Natürlich ist Fantasie hier nicht nur erlaubt, sondern Bedingung, und die Tech-Level unserer irdischen Geschichte dienen nur als Orientierung. Warum nicht eine Welt erschaffen, in der das Schießpulver nie erfunden wurde, weil es stattdessen gelang, flüssige Magie in den Lauf einer Flinte zu stopfen? Oder eine Welt, in der die Fluggeräte Da Vincis tatsächlich funktionieren und Verbreitung gefunden haben?
Wichtig ist, dass Autoren ihre Welt "zu Ende denken". Flüssige Magie in der Flinte lässt Ritter ebenso aussterben wie die Schwarzpulver-Variante. Fluggeräte verkleinern eine Welt nicht nur gefühlt, weil alles schneller ereichbar ist, sie ermöglichen auch Reisen im Winter oder den Import frischer Waren aus exotischen Ländern. Was wiederum den Horizont erweitert. Nur durch die innere Schlüssigkeit einer Welt, durch ihre Logik, wird sie vor den Augen des Lesers plastisch.
Es gibt noch einen zweiten Grund, warum auch Fantasy-Autoren gut und solide recherchieren sollten, gerade in Alltagsdingen.

Kopfkino - Nervös rutschte Eva auf dem gepolsterten Sessel herum. Durch die dicken Fensterscheiben fiel goldenes Mittagslicht in den Raum und ließ den Parkettboden glänzen. Im Kamin brannte ein fröhliches Feuer.
Sie goss sich Apfelsaft aus der bauchigen Flasche ins Glas und nahm einen Schluck, bevor sie zum wiederholten Mal ihr Aussehen kontrollierte. Das blausamtene Mieder umschmeichelte ihre Figur, und die Löckchen ringelten sich artig um ihr Gesicht.
Draußen klapperte eine Pferdekutsche durch die engen Gassen und hielt vor dem Haus. Endlich! Schritte erklangen auf der Treppe, und dann kam ein jungern Mann in den Raum. Er zog seinen Hut, an dem eine Feder wippte, und verbeugte sich tief vor ihr.
"Stolzing, mein Fräulein. Zu Ihren Diensten."

Was haben Sie gesehen? Einen tschechischen Märchenfilm? Ich auch. Warum? Die ganze Szenerie enthält Versatzstücke aus dem siebzehnten, achtzehnten Jahrhundert. Kamin, Parkett und Mieder bilden eine romantisch-verklärte Kulisse, und nichts davon war im Mittelalter schon erfunden. Schicken wir unsere Protagonisten also ein paar hundert Jahre rückwärts.

Nervös rutschte Eva auf der Bank herum. Durch die Fensterbespannung aus geöltem Leder fiel ein wenig Mittagslicht in den Raum und ließ das frische Stroh auf dem gestampften Lehmboden glänzen. In der offenen Feuerstelle fielen die Glut langsam in sich zusammen.
Sie goss sich Apfelsaft aus dem tönernen Krug in einen Becher nahm einen Schluck., bevor sie zum wiederholten Mal ihr Aussehen kontrollierte. Der Überwurf mit den tiefen Ärmelausschnitten zeigte genug von ihrer kostbar bestickten Kotta, und einige vorwitzige Löckchen lugten aus ihrer Haube.
Draußen mühte sich ein Ochsenkarren knarrend durch den Straßenschlamm und kam vor dem Haus zum Stehen. Endlich! Schritte erklangen auf der Treppe, und dann kam ein junger Mann in den Raum. Er zog sich die Gugel vom Kopf und verbeugte sich tief vor ihr.
"Stolzing, edle Dame. Zu Euren Diensten."

Jawohl, das ist Mittelalter. Es ist ein bisschen fremd durch die Fenster und die ungewohnten Kleidungsstücke, und es hat eine ganz andere Atmosphäre. Fantasyautoren müssen also immer darauf achten, welche Bilder sie ihren Lesern in den Kopf pflanzen. Manchmal reicht schon der Gebrauch eines zu modernen Wortes, um ein falsches Bild aufflackern zu lassen. Wenn ich beispielsweise "Kutsche" höre, denke ich an Märchenfilm. An so ein verziertes Kistchen auf großen, spinnendünnen Rädern, mit Samtkissen im Inneren. Wenn ich nicht genau dieses Bild erzeugen will, schreibe ich lieber "Fuhrwerk" oder "Wagen". Das ist schon wesentlich weniger komfortabel, oben offen, fährt auch nicht so schnell, und gezogen wird es von Ochsen, nicht von edlen Rössern.

Recherche dient also zum einen dazu, eine Welt in sich logisch und damit authentisch zu machen. Zum anderen befähigt sie aber den/die Autor/in, die erzählten Bilder noch passgenauer zu steuern. Leser, die erst einmal in die falsche Richtung denken, fängt man nur mit Mühe wieder ein. Verwenden Sie also Sorgfalt auf Ihre Fantasywelt - sie ist mehr als nur Kulisse.
Und erklären Sie mir gelegentlich, woher die Hobbits ihre Kartoffeln haben...



© Susanne Pavlovic, im Netz als Textehexe bekannt, ist studierte Germanistin (im Nebenfach Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter) und arbeitet als freie Autorin und Lektorin. Für ihre Fantasy-Romane hat sie die Welt Abrantes entwickelt, die an das Hochmittelalter angelehnt ist. Neben ihren eigenen Büchern betreut sie als Lektorin und Schreibcoach die Romanprojekte zahlreicher Indie-Autoren.

Kommentare

Peter J. Kraus hat gesagt…
woher die Hobbits ihre Kartoffeln haben...?

Na, aus Peru.

Schicker, sehr notwendiger Text. Nun könnte man vielleicht bei gewissen amerikanischen Autoren weitermachen, die über Deutschland schreiben und dort deutsche Ausdrücke wie Bahnhoff, Reichssicherheitshauptampf und Pistolen namens Lüger benutzen. Everybody fucks up sometimes, scheint´s.
Anonym hat gesagt…
Na aus dem gleichen Laden, in dem es auch Tabak gibt ... :-)
Textehexe hat gesagt…
Insofern sehr konsequent, dass im Hobbit-Film, anfangs beim Zwergen-Festmahl, auch Zucchini, Kürbis und Paprika im Bild waren :)
Myra Çakan hat gesagt…
but some do more than other ;-)